Montag, 6. Juni 2022

Pfingsten - Ausgießung des Heiligen Geistes

Aus diesem Grund erinnere ich dich daran, dass du erweckest die Gabe Gottes, die in dir ist durch die Auflegung meiner Hände.
2. Timotheus 1,6



Bekennen, aber mit Schmackes! Eine Predigt von Pfarrer Alexander Seidel

(Quelle: https://www.pastors-home.de/?p=1836)

 2. Timotheus 1, 7-10:

Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe, und der Besonnenheit. Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes. Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Ratschluß und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt, jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium. 

 

Liebe Gemeinde,

„schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn” schreibt der Apostel an seinen Mitarbeiter Timotheus. Er hätte auch sagen können: „Es braucht dir nicht peinlich sein, wenn Du über Deinen Glauben, – über Jesus Christus sprichst”.

Wir können daraus schließen: Dem engen Paulus-Mitarbeiter Timotheus war nicht immer ganz wohl dabei, wenn er von seinem Glauben an Jesus reden sollte. Und uns geht's heute auch nicht viel anders: Es fällt vielen Christen nicht leicht, mit anderen Menschen über ihren Glauben zu sprechen.

In unserer Gesellschaft ist der christliche Glaube nichts Selbstverständliches mehr. Kirche ist für Viele eine soziale Einrichtung, die irgendwie Gutes tut. Und sagt man solchen Leuten, daß Kirche eine Gemeinschaft von Menschen ist, die der gemeinsame Glaube verbindet, dann kann man gelegentlich hören: „Jaja, schön, schön. Aber das ist ja deine Privatsache”. Und was mache ich dann? Dann laß ich meinen Glauben eben meine Privatsache sein.

Vielleicht bin ich ja auch ganz froh, wenn Keiner nach meinem Glauben fragt. Wenn keiner genau wissen will, was das heißt, wenn wir im Glaubensbekenntnis zusammen sprechen: „ich glaube an Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, … gekreuzigt und auferstanden..”.

Viele Inhalte unseres christlichen Glaubens sind nicht auf Anhieb einsichtig. Gerade kritisch denkende Menschen haben da ihre Probleme. Da muß ich damit rechnen, daß jemand erstaunt fragt: „was, und du glaubst das alles? – hätt ich gar nicht von dir gedacht.”

Da überlege ich es mir vieleicht schon zweimal, bevor ich mich vor Arbeitskollegen oder im weiteren Freundeskreis als Christ zu erkennen gebe.

Eine Christenverfolgung gibt es bei uns nicht. Wer sich zu Jesus Christus bekennt, wird allenfalls für naiv und weltfremd gehalten. Anders siehts zum Beispiel in Indien aus: Reverend Dass aus Indien, der dort ein Waisenhaus leitet, ist momentan in Herzogenaurach zu Gast. Er hat in verschiedenen Kreisen von seiner Arbeit berichtet. Und er kann davon berichten, daß Christen in Indien einen schweren Stand haben. Seit sich die politische Lage dort verändert hat, werden Christen zunehmend diskriminiert. Wer sich als Christ zu erkennen gibt, findet nur schwer einen Arbeitsplatz. Und es gibt auch gewaltsame Übergriffe auf Christen beziehungsweise auf Kirchen. Und ähnliche Berichte kennen wir auch aus vielen Ländern in Fernost.

In Deutschland kennen wir so eine Verfolgung nicht. Und dafür können wir dankbar sein, und umso mehr sollten wir für solche verfolgten Christen beten.

Dennoch: Es fällt mir, und sicher vielen von Ihnen, nicht leicht, sich als Christ zu „outen”. Wenn ich sage, daß mir mein Glaube, Gott, Jesus Christus, der Gottesdienst, der Hauskreis, wichtig sind, dann könnte einiges auf mich zukommen: Hält man mich dann für einen frommen Idealisten von vorgestern ohne Sinn für Realität? Oder macht mein Gegenüber mich dann plötzlich mitverantwortlich für die Kreuzzüge, Hexenwahn und andere dunkle Kapitel der Kirchengeschichte?

Oder fragt der Andere mich dann über etwas aus der Bibel, und dann steh ich da und hab keine Antwort, weil ich doch auch nicht alles verstanden habe; selber noch Fragen habe?

Wer so nachdenkt, der bekommt ein verzagtes Hasenherz: Hat Skrupel, über seinen eigenen Glauben zu reden. So wie der junge Timotheus, eigentlich ja Pfarrer, Prediger von Beruf. Er weiß nicht, ob er offensiv vom Glauben reden, für ihn werben soll.

Die Antwort die unser Predigttext darauf gibt, macht angesichts aller dieser Schwierigkeiten dem Timotheus und uns Mut:

Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe, und der Besonnenheit. Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes.

Es braucht uns nicht peinlich zu sein, von unserem Glauben zu reden, ihn zu bekennen. Wir brauchen keine Angst vor unangenehmen Situationen haben. Und das aus eben 2 Gründen:

Der Heilige Geist, Gott in uns, will uns nicht ängstlich werden lassen, sondern er will uns Kraft, Liebe und Besonnenheit verleihen. Das ist eine wichtige Zusage: Gott sagt: Ich laß dich nicht allein. Du brauchst dich nicht auf deine eigene Redegewandtheit verlassen. Ich bin bei Dir, will Dir die richtigen Worte geben. Denke an Pfingsten: Da wurden aus den unbeholfenen und verzagten Jüngern plötzlich machtvolle Prediger.

Wir können festhalten: Wir sind nicht allein auf uns gestellt, wenns drum geht, von Jesus Zeugnis zu geben. Wir können auf Gottes Hilfe hoffen. Und das kann uns Mut machen, zum Gespräch, zum Bekennen unserer Hoffnung.

Zum zweiten: Das Evangelium von Jesus Christus ist nicht allein ein Evangelium der Stärke, sondern auch der Schwäche: Jesus ist an einem Kreuz gestorben. Die Todesart der gescheitern Existenzen von Verbrechern. Das sah aus wie das klägliche Scheitern eines selbsternannten Heilands. In Wahrheit aber war es ein zentrales Ereignis der heilvollen Geschichte Gottes mit uns Menschen. Gottes Handeln vollzieht sich eben oft unsichtbar, in der Verkleidung des Schwachen, des Kleinen, des Mißlungenen. Denken wir an die Gleichnisse, die Jesus erzählt hat: Der verborgene Schatz im Acker, die zufällig entdeckte Perle oder das winzige Senfkorn, das zu einem großen Baum heranwächst.

Darum darf mein Reden vom Glauben, mein Bekennen auch ein schwaches Reden sein. Ich muß in einer Diskussion über den Glauben nicht den Sieg davontragen. Wer jemand meinen Glauben an Jesus Christus für unlogisch, für unvernünftig hält, dann werde ich ihn kaum vom Gegenteil überzeugen können. Aber ich kann diesem Menschen sagen, was ich glaube, und warum mir Gott wichtig ist.

Und das sollte ich auch tun. Und das kann auf ganz verschiedene Weisen geschehen.

Sicher: es gibt Menschen, denen liegt ihr frommes Herz auf der Zunge. Mit großer Selbstverständlichkeit sprechen sie andere zur Zeit oder auch zur Unzeit auf Ihr Verhältnis zu Gott an. Es ist schön, daß manche Menschen dieses Talent haben. Aber viele andere Christen tun sich da schwer. Ich denke: Es ist schon viel, wenn ich einem Gespräch über den Glauben nicht aus dem Weg gehe.

Denn: Wer als Christ lebt, der tut das nicht inkognito. Irgendwann fragt mich jemand:

Ach, du gehst am Sonntag in die Kirche?

Oder: Warum betest du vor dem Essen?

Oder ein frommer Aufkleber am Auto wird zum Thema unter Kollegen.

Es kann auch ein Kalender mit Bibelsprüchen sein, der dazu führt daß man über die Bibel ins Gespräch kommt.

Wir sehen: Es sind oft die Kleinigkeiten, die allein schon Zeugnis vom eigenen Glauben geben. Die andere nach unserem Verhältnis zu Gott und Kirche fragen lassen. Und dann sollte ich auch – wie der Apostel formuliert – mich nicht schämen, dazu zu stehen; Also nicht den Rückzug antreten und geschickt das Thema wechseln, weil es mir unangenehm ist.

Der Bibeltext ermutigt mich, offen über meine Beziehung zu Gott zu reden.

Aber er will mich nicht unter Druck setzen. Da ist kein Zwang zum Bekenntnis. Darum brauche auch ich mich nicht in Zugzwang bringen. Nicht am Sonntag abend planen: „Am Montag muß unbedingt mit einem Kollegen ein Gespräch über den Glauben her.” Damit setzte ich mich unter einen frommen Leistungsdruck, der dann nicht mehr christlich ist. Gottes Liebe gilt mir, unabhängig davon, ob ich ein toller Bekennertyp bin, oder eher zu den Stillen, den Zurückhaltenden im Lande gehöre.

Aber ich darf mir Mut machen lassen. Ich habe die Zusage, daß Gottes Geist mir die Kraft, die Liebe und die Besonnenheit dazu schenken will.

Kraft, Liebe, Besonnenheit. Diese drei Geschenke Gottes gehören nicht bloß in den Kontext des Bekennens. Sie sind überhaupt Gottes Geschenke an uns Menschen, die wir aus ihm leben. Das heißt: Wenn wir mit anderen Leuten über Gott reden, sie für den Glauben gewinnen wollen, dann machen wir das doch nicht bloß dafür, damit die Kirche nicht ausstirbt, und die Pfarrer ein paar neue Schäfchen haben. Das ist ja nicht der eigentliche Sinn der Sache.

Nein. Es gibt was viel wichtigeres: Wenn jemand neu den Glauben für sich entdeckt. Wenn er eine Beziehung zu Gott bekommt. Dann wird er von Gott beschenkt. Und Gottes Geist wirkt auch in ihm dann diese Kraft, diese Liebe und Besonnenheit.



Jetzt kann man fragen: Kraft, Liebe, Besonnenheit, das ist ja keine spezifisch christliche Erfindung. Auch ohne Gott gibts Leute, die haben Kraft, die können lieben, die sind besonnen. Wozu dann der ganze Aufwand? Ich würde sagen: Wenn wir diese drei – ich sag mal Tugenden – bekommen, dann haben sie ein ganz besonders Profil:

Zu Beispiel die „Kraft”: Klar, es geht hier nicht um die rein physische Power, mit der ich eine Mülltonne hochhebe. Es geht allgemein um die Kraft, etwas zu leisten, etwas zu bewegen, oder auch gegen Widerstände durchzuhalten, Belastungen zu überstehen. Das meine ich hier mit Kraft. Und ein Mensch, der lebt, verbraucht diese Kraft. Wird mit der Zeit auch schwächer. Manche langsamer, manche schneller. Und da ist es dann wichtig, daß man wieder Kraft schöpfen kann. Daß man auftanken kann.

Beide Begriffe „schöpfen” und „auftanken” sagen es schon: Das kann ich nicht aus mir selber. Wenn ich ausgepumpt bin, ist es sinnlos, aus mir selber noch was schöpfen zu wollen. Da sehe ich auch Psycho-Methoden wie „positives Denken” kritisch: Wenn ich noch Kraftreserven habe, können die ja funktionieren. Aber wenn ich wirklich ausgepowert bin, woher soll ich dann dann meine Kraft hernehmen? In mir ist ja nix mehr. Da ist dann Gottes Kraft gefragt. Ein Gott, der eben nicht bloß eine Idee, ein gedachtes höheres Wesen ist, sondern der Schöpfer der Welt. Quelle aller Kraft, der mir Kraft schenken kann. – von außen – nicht aus mir selber.

Das ist viel wert: Ein Gott, zu dem ich in den Belastungen meines Lebens kommen kann. Den ich um seine Hilfe, seine Kraft bitten kann.

Kommen wir zum nächsten Geschenk Gottes: Die Liebe zum Nächsten. Eine Liebe, die auch den lieb hat, den eigentlich nicht liebenswert ist. Das ist das Besondere an der Liebe, die von Gott kommt.

Er liebt uns Menschen, auch wenn wir Sünder sind. Auch wenn wir immer wieder gegen seinen Willen handeln: Er liebt uns doch. Das haben wir in der Bibel schriftlich. Und weil ich mich von Gott geliebt, und von ihm mit Kraft versorgt fühle, brauch ich keine Angst haben, daß ich zu kurz komme. Dann kann ich mich um andere kümmern, für andere dasein. Aus der Liebe, die mir von Gott zukommt, kann ich Liebe an andere weitergeben. Auch an solche, die unsere Liebe nicht verdient haben. Denn wir haben Gottes Liebe auch nicht verdient, wir haben sie geschenkt bekommen. Darum können wir sie vorbehaltlos weiterschenken, ohne Prüfung, obs der andere verdient hat.

Das macht unseren Glauben auch für viele Menschen attraktiv. Viele sind überrascht davon, daß manche Christen unvoreigenommen auf andere zugehen, gerade auch auf soziale Randgruppen, die kaum einer mag. Nicht nur der sympathische Nachbar, auch die Nervensäge von nebenan möchte angenommen werden. Und auch die Familie aus dem Freundeskreis, möchte unsere Liebe nicht entzogen bekommen, nur weil der Familienvater arbeitslos geworden ist, und deshalb manche Gespräche komplizierter werden.

Wer hört, wie kirchenferne Menschen zum Glauben gefunden haben, der bekommt den Eindruck: Oft war die Herzlichkeit der Christen ein wichtiger Faktor, den christlichen Glauben mal aus der Nähe zu betrachten. Die Liebe, daran sollten wir immer denken, ist eines dieser drei Geschenke Gottes. Die wir von ihm erhalten, und dann weitergeben können. Wie wir die Kraft nicht aus uns selber schöpfen können, erwartet von Gott von uns nicht, andere zu lieben, ohne daß er uns diese Liebe auch schenkt.

Ebenso stehts um die Besonnenheit, das letzte dieser drei Geschenke Gottes an uns: Besonnenheit, das heißt: Das rechte Maß zu finden. Auch in schwierigen Situationen nicht den Kopf zu verlieren, nicht in blinden Aktionismus zu verfallen, bloß damit man irgendwas tut.

Besonnenheit kann heißen: Situationen nüchtern zu betrachten, und sich bewußt sein, daß letztlich Alles in Gottes Hand liegt. Ich finde, es entlastet mich, zu wissen, daß nicht alles an mir, an uns Menschen hängt. Die Bibel gibt immer wieder Zeugnis davon, daß das Schicksal der Welt, das Schicksal der Völker in Gottes Hand liegt. Auch die eigene Zukunft darf ich in Gottes Hand wissen. Klar: als Mensch bin ich keine Marionette, die von Gott gesteuert durchs Leben stakst. Ich habe habe große Freiheiten zu Handeln. Zum Guten und zum Schlechten. Ich kann meine Zukunft planen. Ich kann mir auch selber Steine in den Weg legen, und auch wieder wegräumen.

Über allen diesen Freiheiten darf ich daran glauben, daß Gott Gutes mit mir vorhat. Schaun wir noch ein letztes mal auf unseren Predigttext: Diesmal in einer neueren Übersetzung (Hoffnung für alle:)Er hat uns gerettet, und er selbst, der Heilige Gott hat uns zu seinem Dienst berufen.

Nicht etwa, weil wir das verdient hätten, sondern aus Gnade, und weil es von Anfang an Gottes Absicht war. Denn noch ehe diese Welt bestand, war es Gottes Plan, uns in seinem Sohn Jesus Christus seine erbarmende Liebe zu schenken.

Das ist jetzt Wirklichkeit geworden, denn unser Retter Jesus Christus ist gekommen. Das ist das Evangelium: Er hat dem Tod die Macht genommen und das Leben – unvergänglich und ewig – ans Licht gebracht.

Das ist Gottes Plan mit uns Menschen. Er will uns wahres, unvergängliches Leben schenken.

Andere haben uns davon erzählt. Und im Glauben haben wir dieses Geschenk Gottes angenommen. Und wenn wir von unserem Glauben weitererzählen, können auch andere Menschen diese Gabe Gottes für sich annehmen.

Darum soll Timotheus – darum sollen wir – weitersagen, von dem, was unserem Leben Hoffnung gibt!

Amen




Quelle: Bild "Watering" & "Pentecost" von Pixabay

Die Geschichte vom Mohnengel



Der Mohnengel

( Autor unbekannt)

Es war einmal ein kleiner Engel im Himmel, der die Menschen mit solcher Nähe und Zärtlichkeit begleitete, dass er den unwiderstehlichen Wunsch empfand, nicht nur mit seinen Flügeln über die Erde zu schweben und schützend die Menschen zu achten, sondern er wollte selbst auf ihren Straßen gehen, einer von ihnen werden.

Eines Tages sah er auf der Erde eine erblühte Mohnblume. Da schien dem kleinen Engel, als habe er im Himmel noch nie ein solches Rot empfunden und seine Sehnsucht, zur Erde zu gehören, wuchs. So trat er vor Gottes Angesicht und bat: 

"Lass mich auf die Erde, lass mich ein Mensch unter Menschen werden."

Da trat ein erhabener, weiser Engel dazu und sagte: 

"Weißt du auch, dass es auf der Erde nicht nur Sonne und Blumen gibt? Es gibt Stürme und Unwetter und allerlei Ungemütliches." 

"Ja", erwiderte der kleine Engel, dass weiß ich. Doch sah ich auch einen Menschen, der hatte die Kraft einen großen Schirm aufzuspannen, sodass zwei Menschen darunter Platz hatten.  Es schien mir, den Beiden könnte kein Unwetter etwas anhaben." 

Da lächelte Gott dem kleinen Engel zu.

Die Zeit verging, und eines Tages erschien der kleine Engel wieder vor Gottes Angesicht und sprach:

 "Ich habe mir noch mehr angesehen von der Welt. Es zieht mich mehr und mehr hinunter." Da trat der erhabene, weise Engel wieder hinzu und entgegnete: 

"Weißt du auch, dass es Nebel und Frost und eine Menge verschiedener Arten von Glatteis auf der Erde gibt?" 

Da antwortete der kleine Engel: 

"Ja, ich weiß um manche Gefahren, doch sah ich auch Menschen, die teilten ihre warmen Mäntel. Und andere Menschen, die gingen bei Glatteis Arm in Arm." 

Da lächelte Gott dem kleinen Engel erneut zu.

Als wieder einige Zeit vergangen war, trat der kleine Engel zum dritten Mal vor Gottes Angesicht und bat: 

"Lass mich ein Mensch werden. So rot blüht der Mohn auf der Erde. Mein Herz ist voll Sehnsucht, etwas zu diesem Blühen beizutragen." 

Da trat der erhabene, weise Engel ganz nah zu dem kleinen Engel und fragte mit ernster Stimme: 

"Hast du wirklich genug hingesehen, das Leid und das Elend geschaut, die Tränen und Ängste, die Krankheiten, Sünde und den Tod geschaut?"

Mit fester Stimme erwiderte der kleine Engel: 

"Wohl habe ich auch das Düstere, Traurige und Schreckliche gesehen. Doch ich sah auch einen Menschen, der trocknete einem anderen die Tränen, der vergab einem Schuldigen und der reichte einem Sterbenden die Hand. Ich sah eine Mutter, die wiegte ihr krankes, ausgemergeltes Kind durch viele Nächte und wurde nicht müde, die alte leise Melodie der Hoffnung zu summen. Solch ein Mensch möchte ich werden." 

Da trat der erhabene, weise Engel zurück und Gott schenkte dem kleinen Engel seinen Segen und gab ihm viel Himmelslicht mit auf die lange Reise.

Bevor der kleine Engel zur Erde niederstieg, nahm ihm der erhabene, weise Engel einen Flügel ab und der andere Flügel wurde unsichtbar. 

Da fragte der kleine Engel: 

"Mein Gott, wie soll ich vorwärts kommen und wie zurück finden ohne Flügel?"

"Das herauszufinden wird deine Lebensaufgabe sein", hörte er Gottes Stimme zärtlich sagen.

In dieser Nacht kam ein kleines Kind zur Welt. Seine Mutter, noch vor Schmerz und Anstrengung betäubt, nahm das Kind in die Arme, sah das Himmelslicht wie einen Lockenkranz um das Köpfchen des Kindes leuchten und flüsterte: 

" Sei willkommen unter uns, mein kleiner Engel."

Noch lange sah man das Himmelslicht um das Kind. Doch wie das Leben so ist, es beschmutzt auch die reinsten und hellsten Lichter. All die vielen Einflüsse, die Härte und der Kampf taten ein Übriges. Bald sah niemand mehr, dass der Mensch himmlisches Licht in sich trug. Zwar machte sich der unsichtbare Flügel hier und da bemerkbar, doch was bei dem Kind als träumerischer, schwebender Schritt wahrgenommen wurde, das wirkte bei dem Heranwachsenden eher als unsicheres Schwanken und dann beim Erwachsenen nur noch als Hinken und Stolpern.

Je länger der Mensch, der einst ein Engel gewesen war, auf den staubigen und steinigen Wegen des Lebens ging, die mühsamen Treppen bestieg, die steil abfallenden, dornigen Hänge hinunter strauchelte, desto mehr hatte er vergessen, woher er kam und weshalb er hier wanderte. Einzig die Liebe zu den kleinen roten Mohnblumen, die an Wegrändern und Magerwiesen blühten, war ihm geblieben.

Viel Leidvolles begegnete dem Menschen auf seinem Lebensweg. Zwar konnte er manchmal eine Träne trocknen, zwar reichte er ab und zu einem schwankenden Mitmenschen die Hand, zwar brach er zuweilen sein Brot mit einem Hungernden, doch die meisten Rätsel blieben.  Er merkte mehr und mehr, wie wenig er tun konnte und wie vieles er unerledigt zurücklassen musste. Seine Kraft reicht nur für ganz wenig und oft schien es ihm, als bewirkte sein Leben nichts.

Jeden Frühling aber blühte der Mohn an den Straßenrändern und erfreute des Menschen Herz. Nach einem besonders langen, kalten Winter, in dem der Mensch kaum genug Wärme und Schutz, Raum und Nahrung, Freundschaft und Brot gefunden hatte, konnte er sich nur noch langsam und mühsam fortbewegen. Er musste viele Pausen machen und schlief vor Erschöpfung am Wegrand ein. Da erblickte er weit über sich auf einem unerreichbar hohen Felsen eine kleine wiese voll roten Mohns. Der Mensch rieb sich die Augen. So rot, so rot erblühte der Mohn!

Beim Anblick dieser Blumen wünschte er so sehr, dass er allen Menschen, denen er begegnete und allen Tieren, die um ihn waren, eine solche Blume und so ein klares, inniges Rot als Zeichen der Liebe schenken dürfe. Er bemerkte neben sich einen Wanderer, genauso müde, genauso gezeichnet von der langen Straße wie er. 

"Wohin schaust du so voller Sehnsucht und voller Wehmut?", fragte dieser. 

"Dort auf die Mohnblüten. So müsste die Farbe unserer Liebe sein." 

"Weißt du denn nicht, wie schnell diese Art Blumen welken, so wunderbar sie auch sind?", kam die Frage des Wanderers.
Der Mensch, der einst ein Engel gewesen war flüsterte: 

"Ich weiß um ihre Sterblichkeit, trotzdem ist kein roteres Rot in der Welt und in meinem Herzen. Diese Blumen sind wie die Liebe, mag das Äußere auch welken, ihr Rot bleibt in der Seele."

Da schauten sich die beiden Menschen ins Gesicht und erkannten den Funken Himmelslicht in den Augen des Anderen. Sie sahen, woher sie kamen, wozu sie gewandert waren und wohin sie noch unterwegs waren. Und sie sahen an sich jeweils einen Flügel. Voller Freude umarmten sie sich. Da geschah das Wunder. Sie erreichten das Mohnfeld. Gemeinsam konnten sie fliegen, denn Menschen  sind Engel mit nur einem Flügel - um Fliegen zu können müssen sie sich umarmen.

Zu dieser Stunde sagte Gott im Himmel: 

"Du hast herausgefunden, wozu du unterwegs warst und ich dich aussandte. Dein Mohn blüht jetzt im Himmel. Komm heim!"

So sind auch wir Menschen wie Engel mit nur einem Flügel. Wenn wir unser Ziel erreichen und fliegen wollen, müssen wir einander umarmen.






Quelle: Bilder "Poppy" von Pixabay